Gut möglich, dass im Berner Oberland die erste Hexenjagd Europas stattfand: Irgendwann zwischen 1392 und 1432 wurden mehrere Personen im Dorf Boltigen im Simmental der Hexerei bezichtigt. Alles Männer. Ihnen wurde unter anderem vorgeworfen, Ernten und Vieh zerstört und bei einer Frau Fehlgeburten verursacht zu haben.
So steht es zumindest im «Formicarius» («Der Ameisenhaufen»), einem religiösen Schriftwerk, das der Theologe und Dominikaner Johannes Nider verfasst hatte.
Das Buch inspirierte den berühmten «Hexenhammer», eine Hetzschrift, welche im 16. Jahrhundert die organisierte und grossflächige Hexenjagd in Europa einläutete, die primär gegen Frauen gerichtet war und im Laufe der Jahrzehnte Tausende von Menschenleben auslöschte.
Die Ereignisse im Simmental sind jedoch etwas rätselbehaftet: Man weiss nicht mit Sicherheit, dass sie stattgefunden haben, denn bislang existiert nur eine Quelle: Der Formicarius. Und diese Schrift stützt sich auf die Berichte eines lokalen Richters, dessen genaue Identität man heute nicht kennt.
Ich konnte mit der Historikerin Catherine Chêne von der Universität Lausanne ein ausführliches Interview über die Simmentaler Hexenjagd führen. Ich wollte von ihr wissen, worum es bei den Vorwürfen genau ging, wie es um die Quellenlage steht und was die Gründe für die Verfolgungswelle gewesen sein könnten. Sie gab mir ausführliche und wirklich hilfreiche Antworten. Ich danke ihr herzlich!
Das Interview wurde schriftlich auf Französisch geführt. Ich habe es übersetzt und leicht gekürzt und redigiert.
Catherine Chêne, was sind Ihre Quellen für die Hexenverfolgungen, die im Simmental stattfanden und was steht in diesen Texten?
Catherine Chêne: Meine Hauptquelle ist der «Formicarius» des dominikanischen Theologen Johannes Nider. Der Formicarius wurde zwischen 1436 und 1438 verfasst und ist eine moralische Abhandlung zur Unterweisung junger Dominikaner. Er ist in fünf Bücher unterteilt und bietet in Form eines Dialogs zwischen einem Theologen (Nider selbst) und seinem Schüler eine Lehre über die Sitten der guten und schlechten Vertreter der christlichen Gesellschaft. Die Morallehre wird durch Anekdoten veranschaulicht, in denen erzählt wird, wie Gläubige zu Niders Zeit ihr Verhalten durch Manifestationen göttlichen oder teuflischen Ursprungs belohnt oder bestraft sahen.
Und beim teuflischen Ursprung kommen die Hexen ins Spiel, nehme ich an.
Ja. Im fünften und letzten Buch hat Nider in drei Kapiteln eine Reihe von Zeugenaussagen über Hexenjagden im bernischen Teil der Diözese Lausanne zusammengestellt; sein Hauptinformant ist ein bernischer Laienrichter namens Peter, der, wie es an einer Stelle heisst, als Vogt des Obersimmentals amtierte, einer Region, die Bern zwischen 1389 und 1391 erworben hatte. In dieser Region soll der Richter Personen verfolgt haben, die beschuldigt wurden, die Kunst der Verwünschung oder Zauberei zu praktizieren.
Worum ging es konkret?
Der Hauptangeklagte war ein Mann aus Boltigen namens Scädeli, der beschuldigt wurde, bei einer Frau Fehlgeburten verursacht, ihrem Vieh geschadet und Ernten durch Blitz- und Hagelschlag zerstört zu haben. Er gestand diese Verbrechen unter Folter und landete schliesslich auf dem Scheiterhaufen. Bei den Verhören gab Scädeli gemäss Nider zu, dass er mit dem Teufel einen Bund eingegangen war, indem er ein schwarzes Huhn an einer Strassenkreuzung geopfert hatte.
Was stand da sonst noch?
Eine weitere Zeugenaussage listet die übersinnlichen Kräfte auf, die Scädeli und seinem Mentor, einem Zauberer namens Hoppo, zugeschrieben wurden: Die beiden Männer waren angeblich nicht nur Zauberer, sondern auch Wahrsager, hellsichtig und besassen die Fähigkeit zu fliegen. Der Bericht erwähnt schliesslich einen dritten Zauberer namens Scavius, der 60 Jahren zuvor, also irgendwann zwischen 1376 und 1378, in der Region aufgetaucht sein soll. Er war angeblich so etwas wie der Lehrer von Hoppo und Scädeli.
Weiter präsentiert Nider zwei Zeugenaussagen über die Geständnisse einer Hexe und eines Zauberers, die vom selben Richter Peter verhaftet und verhört wurden, ebenfalls im bernischen Gebiet, aber diesmal ohne Bezug zum Obersimmental. Die beiden Personen werden als Mitglieder einer Sekte abtrünniger Christen dargestellt, die den Teufel anbeteten und sich an religiösen Versammlungsorten trafen. Sie wurden beschuldigt, Kindsmord und Kannibalismus zu praktizieren. Vor allem wurde ihnen vorgeworfen, Säuglinge zu töten. Nachdem sie die Kinder begraben hatten, sammelten sie die Leichen ein und kochten sie. Aus dem Fleisch stellten sie anschliessend Salben her, die sie für Verwünschungen und Verwandlungen verwendeten. Den flüssigen Teil gaben sie an neue Anhänger als eine Art Wissenstrank weiter. Bei dieser Initiation mussten die Neuen ihren Glauben verleugnen und dem Teufel die Treue schwören.
Typologisch bilden diese Zeugnisse zwei Gruppen. Die erste berichtet über eine Art von Hexerei, die im Wesentlichen durch die Ausübung von Zaubersprüchen gekennzeichnet ist, Handlungen, die ab dem 14. Jahrhundert aufgrund ihres vermeintlich teuflischen Ursprungs als Verbrechen angesehen wurden. Als solche wurden sie sowohl von zivilen als auch von kirchlichen Gerichten verfolgt. Die zweite Gruppe berichtet über den berühmten Glauben an den Hexensabbat, der die Grundlage für die grossen Hexenverfolgungen in der Neuzeit bildete. Historisch gesehen machen diese Zeugnisse den Formicarius zu einem von sechs Texten, die zwischen 1430 und 1440 geschrieben wurden und über die Entstehung dieses Hexenglaubens berichten.
Was sind die anderen Berichte?
Da wären der Bericht des Luzerner Chronisten Hans Fründ über eine Hexenjagd im Wallis im Jahr 1428; die «Errores Gazariorum», eine anonyme Abhandlung, die wahrscheinlich in der zweiten Hälfte der 1430er-Jahre im savoyischen Aostatal verfasst wurde, möglicherweise vom franziskanischen Inquisitor Ponce Feugeyron. Weiter die Schrift «Ut maleficorum et maleficiorum errores», um 1436 vom Laienrichter Claude Tholosan aus Dauphiné geschrieben; das «Champion des Dames» (1440-1442) des Lausanner Propstes Martin Le Franc; und die «Vauderye du Lyonois en brief», eine anonyme lateinische Abhandlung über die Präsenz von Hexen in der Diözese Lyon, die vermutlich zwischen 1439 und 1441 entstand.
Gibt es nebst dem «Formicarius» andere Quellen zur Hexenjagd im Obersimmental um 1400?
Bislang sind diese Verfolgungen durch den Richter Peter nur durch die Aufzeichnungen Niders bekannt. Es gibt also keine anderen Dokumente, die ihre Existenz bestätigen und damit auch den historischen Kontext klären könnten. Ältere Schriften stammen aus dem Jahr 1441 und beziehen sich auf Anklagen wegen Zauberei (siehe hierzu die frühe Studie von H. Türler, «Ueber Hexen- und Zauberwesen im Obersimmental im Mittelalter» von 1907). Das von Ihnen erwähnte Datum 1400 bezieht sich auf die Hypothese des Historikers Joseph Hansen, dass Richter Peter der Vogt Peter von Greyerz gewesen sein könnte. Dieser war zwischen 1392 und 1406 erster Landvogt des Obersimmentals. Meine Archivrecherchen ergaben jedoch, dass zwischen 1406 und 1436/38 (dem Zeitpunkt der Abfassung des Formicarius) zwei weitere Vögte den Vornamen Peter trugen: Peter Wendschatz (1407-1410) und Peter von Ey, der 1417 belegt ist; die Identität der nachfolgenden Vögte zwischen 1418-1424 und 1429-1432 ist nicht mehr bekannt. Somit lässt sich also nur sagen, dass der Formicarius über Hexenverfolgungen im Berner Obersimmental berichtet, die zwischen 1392 und 1432 stattfanden.
Die Suche in den Berner Archiven hat auch gezeigt, dass die Berner Behörden zwar tatsächlich ab dem frühen 15. Jahrhundert Prozesse gegen Zauberer führten, doch dabei der Sabbatglaube noch keine Rolle spielte, im Gegensatz zum französischsprachigen Teil der Diözese Lausanne, wo dieser Glaube ab 1438/1439 wirksam wurde. Daraus folgt, dass die Authentizität der Zeugenaussagen, die über die Verfolgung im Obersimmental berichten, zwar anerkannt werden kann, die Authentizität der Aussagen zur Hexensekte, die der Apostasie, des Kindsmords und des Kannibalismus beschuldigt wurden, aber fraglich ist. Diese Art der Anschuldigungen, die in den 1430er-Jahren ein Novum darstellten, könnten von Nider aus anderen Quellen zusammengetragen und Richter Peter zugeschrieben worden sein, um ihnen mehr Legitimität zu verleihen.
Gibt es Vermutungen, warum diese Hexenjagden im Obersimmental überhaupt stattfanden? Was war der Auslöser?
Ja, Vermutungen gibt es. Die wichtigste, die bereits Arno Borst aufgestellt hat, ist der politische Wandel im Obersimmental ab 1389, der zu Spannungen zwischen Bern und seinen neuen Untertanen geführt haben könnte. Studien zu einer Hexenjagd im bischöflichen Wallis im Jahr 1428 haben gezeigt, dass die Hexenjagd dort auf einen Konflikt zwischen Baron Guichard von Raron und seinen Walliser Bürgern gründete. Ein kurzes Echo möglicher Spannungen im Obersimmental findet sich im Formicarius: An einer Stelle wird beschrieben, wie Richter Peter, der nach seiner Amtszeit als Vogt ins Obersimmental zurückkehrte, einem «bösartigen» Anschlag zum Opfer fiel: Vier Männer und eine alte Frau hätten ihn als Reaktion auf ein früheres Urteil angegriffen.
Haben womöglich die grossen Pestwellen eine Rolle gespielt?
Meines Wissens gibt es keinen Zusammenhang zwischen den Pestwellen, welche die Schweiz ab 1347 heimsuchten, und der Tatsache, dass in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Obersimmental Hexen verfolgt wurden.
In welchem Verhältnis stehen diese frühen Hexenjagden zu den späteren, grossen Hexenverfolgungen im 15. und 16. Jahrhundert und zur «Hexenhammer»-Hetzschrift Malleus maleficarum?
Die von Nider gesammelten Zeugenaussagen trugen wesentlich zur Verbreitung des Hexenglaubens und insbesondere der Vorstellung des Hexensabbats bei. Sie wurden vollständig im zweiten Teil des «Malleus maleficarum» übernommen und stellen somit eine wichtige Quelle für dieses Werk dar. In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, dass die Autoren des Hexenhammers, vor allem Kramer, auffällige Anpassungen vornahmen: Sie änderten Passagen so um, so dass aus (männlichen) Zauberern weibliche Hexen wurden.
Inwieweit spielten «echte» heidnische Bräuche, die sich in den Bergtälern vielleicht länger gehalten haben, eine Rolle bei den Hexenverfolgungen?
Die Verehrung heidnischer Götter gab es damals schon lange nicht mehr, weder in den Bergen, noch auf dem Land oder in den Städten. Was man jedoch sagen kann, ist, dass Nider, ein Geistlicher aus dem städtischen Umfeld, die Berge als Orte voller Aberglauben wahrnahm, weil es dort kaum Prediger gab. Seiner Meinung nach herrschte in diesen Regionen vor allem Unwissenheit über den Glauben, was die Bewohner anfällig machte für Verbreiter illegaler Praktiken. In einer Anekdote werden etwa Gläubige angeprangert, die, nachdem sie von einem Fluch belegt worden waren, unerlaubte Heilmittel einsetzten, anstatt sich einfach dem Gebet zuzuwenden.
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