«Bigfoot» in der Schweiz?

Wer mich kennt, weiss, dass ich ein Faible für Kryptozoologie habe. Vor allem Bigfoot hat es mir angetan, diese amerikanische Sagengestalt, von der nicht wenige behaupten, dass sie tatsächlich existiert. Doch leider sind bis heute keine wissenschaftlich überzeugenden Indizien oder gar Beweise präsentiert worden.

Aus allen Teilen der Welt entstammen Berichte über solche Affenmenschen, auch dem europäischen Alpenraum. Jedoch sind sie rar. In der Schweiz sind sie eher auf die Ostschweiz beschränkt. Dort gibt es Sagen von den so genannten Wildmännli oder Wildfängge.

Maja Fehlmann-von der Mühll berichtet in ihrem Artikel ’s wild Mannli von Selun : Folklore und Forschung : eine Art Kolonisierung der Alpen? von einer Geschichte, die in den 80er-Jahren von einem Toggenburger Ehepaar erzählt wurde. Hier der Anfang:

Im vergangenen Jahrhundert stellten die Sennen auf der Seluner Alp fest, dass ein- und dieselbe Kuh am Morgen immer ohne Milch war. Sie hatten keine Erklärung für diese aussergewöhnliche Tatsache und fingen deshalb an, die Kuh während der Nacht zu beobachten. Bald schon kamen sie dem Rätsel auf die Spur. Eine seltsame Gestalt huschte über die Weide, tastete sich behutsam an die Kuh heran, legte sich darunter und saugte ihr Euter leer. Sogleich machten sich die Sennen an die Verfolgung der Gestalt. Es dauerte jedoch mehrere Tage, bis sie ihrer habhaft werden konnten. Vor sich hatten sie einen verwilderten Mann, der sich im Wildmannlisloch eingerichtet hatte und von dort aus seine Streifzüge auf Nahrungssuche unternahm. Bekleidet war er nicht, hatte dafür so dichten Haarwuchs am ganzen Körper, dass man ihn anfangs für ein Tier gehalten hatte. Sein Gang war halbwegs aufrecht. Sprechen konnte er nicht und verstand auch offensichtlich kein Wort.

Georg Luck geht in seinem Text Die Fänggen : aus der Alpensage auf eine Sagengestalt im rhätischen Raum ein, die stark an Bigfoot erinnert.

Hier ein paar leicht redigierte Auszüge:

Dies sind die am deutlichsten hervortretenden Gestalten des rhätischen Sagenvolkes und entsprechen etwa den Zwergen der nordischen Sage. Nicht umsonst führt der Kanton Graubünden den wilden Mann in seinem Wappen, diese nackte bärtige Figur mit der ausgerissenen Tanne in der Hand als Sinnbild der ungestümen Kraft. Allerdings ist dieser Wappenmann ein Riese, während die landläufige Vorstellung des Wildfänggen die eines Zwerges ist. Doch dieser Unterschied ist nebensächlich. Die Wesensart ist dieselbe und kennzeichnet diese Wilden in jeder Beziehung als die halb dämonisch, halb menschlichen, sagenhaften Urbewohner eines rauen Gebirgslandes, die sich vor der Einwanderung der Menschen und ihrer Kultur in die Waldschluchten und Felshöhlen zurückziehen und zuletzt ganz verschwinden.

Die Wildmännchen der rhätischen Sage waren ein zwerghaftes Geschlecht, aber von grosser Kraft, Gewandtheit und rauer Natur. Man mag sich, um ein ungefähres Bild von ihnen zu erhalten, einen Zwerg vorstellen mit gedrungenem Körper und harten Gesichtszügen, die aussehen, wie aus rissiger Tannenrinde geschnitten. Sie liefen, wie die Sage erzählt, im Sommer halb oder ganz nackt umher; im Winter bekleideten sie sich mit Tannenflechten oder Tierfellen.

Übrigens war ihre abgehärtete Haut zum guten Teil mit dichten Haaren bewachsen. Sie galten als unvergleichliche Läufer und Kletterer. Darin übertrafen sie die kühnsten Gemsjäger und entwickelten eine fast übernatürliche Behändigkeit. Keine Felswand war ihnen zu steil. Sie kletterten daran empor wie die Mauerspechte. Oft schleppten sie dabei noch ihre Kinder mit, die die Weiber mit den eigenen Haupthaaren sich auf den Rücken oder an die Hüfte gebunden hatten. Um sich den Schwindel zu nehmen, tranken sie Gemsmilch und das beim Laufen hinderliche Seitenstechen beseitigten sie gründlich durch das Herausschneiden der Milz. So erzählt der Volksmund.

Es gibt einige interessante Parallelen zu den Bigfoot-Berichten aus Nordamerika, unter anderem die Zuschreibung von magischen Fähigkeiten:

In einigen tritt die geheimnisvolle, dämonische Seite der Fänggennatur ins Licht. So wird gesagt:

– Sie besassen die Gabe, wilde Tiere, wie Gemsen, Füchse und Wölfe zu zähmen und sich dienstbar zu machen.

– In den Nachtstunden, zwischen dem Abend- und Morgenläuten, besassen sie geheimnisvolle Zauberkraft, die in die Ferne wirkte. Durch Beschwörungen und Verwünschungen vermochten sie nach Belieben Gutes oder Böses zu üben. Sie waren Wunderdoktoren ohnegleichen.

– Sie verstanden auch die Kunst, sich zeitweilig unsichtbar zu machen, wenn auch von einer Tarnkappe oder einer ähnlichen Kopfbedeckung nirgends die Rede ist. Menschliche Gespräche hörten und verstanden sie auf stundenweite Entfernungen.

– In späteren Jahrhunderten war das Erscheinen eines Fänggen von übler Vorbedeutung. Wo die Wunderzeichen, die Kometen, Nebensonnen, Feuerkugeln und Geistererscheinungen zur Sprache kommen, da erwähnen die Chronisten mitunter auch, dass man hier oder dort «wild Lüt» gesehen, zur Bekräftigung der Prophezeiungen von Krieg, Pestilenzen, Feuersbrünsten und andern Unannehmlichkeiten.

Worauf basieren diese Überlieferungen? Sind sie eine uralte Erinnerung an die letzten Neandertaler, die in den entlegensten Alpenräumen vielleicht später ausstarben als angenommen wird? Basieren sie auf «normalen» Menschen, eventuell Ureinwohnern, die sich von der Moderne abwandten und sich, versteckt im Hochgebirge, ihre Lebensweise bewahrten? Sind es Aussteiger, Entflohene, Räuber?

Was ist wahr an solchen Geschichten und was nicht? Jedenfalls finde ich es interessant, dass Sagen von «wilden Menschen» auch in der Schweiz existieren und erstaunliche Parallelen zu Geschichten aus anderen Teilen der Welt aufweisen.

Gerade stiess ich noch auf diesen Text über mittelalterliche Darstellungen von «wilden Menschen» im Alpenraum.

Bild: Midjourney

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